Verlag Hanser Berlin
Im stimmenstarken Chor all derer, die, kritisch beeindruckt, zustimmend bis aufgewühlt, in jedem Falle herausgefordert, das neue Porträt der Familie von Weizsäcker in dem Buch von Fridolin Schley gelesen haben, weist keine Stimme auf Enzensbergers „Hammerstein oder Der Eigensinn“ (2008) hin, was aus vielen Gründen nahe gelegen hätte: Deutsche Familiengeschichte in Generationen, hohe Repräsentanzaufgaben in Regierung und Militär, Distanz und Nähe zum NS und Zweiten Weltkrieg, Folgegeschichte BRD – eine Fülle höchst kontrastiver, aufregender Parallelen. „Hammerstein“ erlebte heftige Abfuhren von der Historiker-Zunft (Götz Aly wütete dawider). Es mag sein, dass Fridolin Schley deswegen für seine Arbeit Roman als Genrebezeichnung nahm, während Enzensberger für Hammerstein „Eine deutsche Geschichte“ gewählt hatte; denn eine Geschichte war es, eine deutsche Geschichte auch... Das Urteil Hammersteins über die Deutschen im NS, 98 Prozent seien „eben besoffen“, wird kaum zu seiner Beliebtheit beigetragen haben. Anders bei den von Weizsäckers, wo ein Untertitel wie „ Der Eigensinn“ undenkbar wäre, greift doch Schley oft zu dem Bild „Er lavierte“. Der Verteidiger Hellmut Becker bedrängte von Weizsäcker, er solle bei der Urteilsverkündigung Überlegenheit zeigen, nicht Überheblichkeit, das führt uns mitten ins Problem, dem sich der Roman von Fridolin Schley widmet: Das - in seinem Schutzverhalten dem Vater gegenüber - so verstörende Selbstbild des Sohnes, das so schwer nachzuvollziehende Verhalten des Vaters. „The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et.al.“ heißt 1946 der Prozess offiziell, er wird auch „Wilhelmstraßenprozess“ und intern “Omnibusprozess“ genannt, weil hinter „et.al.“ bis zu 20 Personen standen. Hellmut Becker hatte als Beistand in die „Verteidigung“ einen Sohn des Angeklagten, Richard von Weizsäcker, hinzugenommen. Es geht also nicht um Schach wie in „Lushins Verteidigung“ (Nabokov), sondern um den Nachfolgeprozess zum Nürnberger Prozess von 1945. Seit der Apologie des Sokrates von Platon ist der Prozess das Ideal der öffentlichen Wahrheitsfindung. Die (untauglichen) Versuche, einen „Prozess Jesu“ zu rekonstruieren, der „Auschwitzprozess“ (Peter Weiss), nicht zuletzt die „12 Geschworenen“ (Lumet/Fonda) als Glanzstück Hollywoods, zeigen das Drama der Wahrheitssuche als anhaltend aktuell; genial aufgenommen von Franz Kafka, einmal im „Prozess“ und einmal im „Brief an den Vater.“ Schley wollte seinen Text erst „Befragung“ nennen, doch die innere wie äußere Dramatik der Geschichte reichte weiter, dazu war die geistige Situation Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren zu aufregend, ihr prägendes Personal zu bestimmend: Die Herren Wurm, Dibelius und Heuss stützen von Weizsäcker, Margret Boveri schreibt, Robert Kempner klagt an, das Ausland stellt die Kameras auf und der Sohn hilft, den Vater zu verteidigen. Ernst von Weizsäcker, seine Person steht für die Existenzfrage jener Jahre: Widerstanden oder mitgemacht? Es geht um den ranghöchsten Diplomaten eines Unrechtsstaates... Was hat er gewusst, was hat er befördert, hat er mitgemacht? Eine Frage, in der „Deutschland“ sich selbst vor Gericht gestellt sah. „ Ich habe nichts mitgemacht, ich habe einen Total-Widerstand geleistet, insgesamt bis an den Rand meiner Möglichkeiten. Das nenne ich nicht mitgemacht.“ Damit ist der Nerv getroffen, damit ist der um Empathie bemühte und immer wieder befremdete Sohn Richard an jedem Prozesstag beschäftigt. Hier liegt die Stärke des Buches: Sich einfühlen in das Denken, Handeln und Nicht-Handeln, in die Sprache und das Schweigen des geliebten Vaters, sein quälend-unbegreiflicher Ausfall an Empathie in der Menschenfeindlichkeit der NS-Welt, die er als höchster Diplomat des „Reiches“ repräsentierte. Der Sohn leidet an dem so schwer nachvollziehbaren Selbstbild des Vaters, seiner schier unerträglich vernebelnden Diplomatensprache bis in das Labyrinth der nichts und alles aussagenden Mini-Kürzeln. Und da gibt es so viele tödliche Texte, die am Ende ein „W.“ tragen. Julia Encke spitzt es zu (FAZ): „Widerstand durch Mitmachen?“ Soll es das gewesen sein? Eine geniale Lösung, nur dass es einem die Kehle zuschnürt. Im biblischen Hebräisch gibt es nur ein Wort für Kehle und Seele. Widerstand durch Mitmachen! Die emsige Persilschein-Industrie lief an...
Schley erzählt knapp, verdichtet, diskret, fragend-tastend, mit großen Bögen ins „Heute“, setzt an zu atemberaubenden Porträtskizzen, unter denen Hellmut Becker (ab 2. Mai 1937 NSDAP-Mitglied), der in der späteren Bundesrepublik als Bildungspolitiker Karriere machte, am schärfsten gezeichnet ist. Sein Plädoyer gipfelte in den Worten: „Weizsäcker...ein Christ, ein Diplomat im besten Sinne des Wortes, ein wahrer Patriot“. Dass er Thomas Mann ausbürgern wollte, war Becker neben so vielem anderen irgendwie entgangen. Ein Glanzstück für jedes politikwissenschaftliche und historische Hauptseminar! Schleys Buch über Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, Moral und Gewissen ist eine fragende Erkundung; sie beginnt mit dem biblischen Satz „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Dank Schleys Arbeit ist wieder darauf zu hoffen.
269 Seiten
24 Euro
Verlag C. H. Beck
Am 1. April 1938 war von Weizsäcker in die NSDAP eingetreten, wurde Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in die SS aufgenommen, später SS-Brigadeführer samt Totenkopf-Ehrenring und SS-Degen – offenbar ein verlässlicher Mann der Macht. Wir wissen nicht präzise, wo er und mit welchen Kenntnissen er den Februar 1933 verbrachte, offiziell Gesandter in Oslo. Ob er vom blitzschnellen Verjagen der deutschen literarischen Elite im Februar 33 nichts erfahren hatte? Den Taliban in Kabul gleich, trieb die neue Macht in wenigen Wochen die tonangebenden Stimmen in Literatur, Theater und Presse in die Flucht, ins Untertauchen, in katastrophische Kälte.
„Berlin, 7.2. 1933 – Mein liebes Kind! Grippewelle u. Heil Hitler beherrschen den Markt...die Grippe ist sehr schlimm. Humlis Klasse ist schon 2 Wochen geschlossen, er selbst gesund u. sehr vergnügt ob der Extraferien...ich war letzten Montag im Faust u. schaute in der Pause auf den Gendarmenmarkt hinunter, da zogen unabsehbare Fackelzüge nach den Linden. Eine Stunde später, in der 2. Pause, zogen sie noch immer. (Wo hatten die Nazis so schnell 20 000 Fackeln her?). Sonst aber herrscht eigentlich Ruhe...“ Betty Scholem schreibt ihrem Sohn Gershom (Gerhard) nach Jerusalem, wie sie den 30. Januar erlebt hat, äußerlich beruhigt, zwischen den Zeilen zittern Ahnungen. (Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946, C.H. Beck, 579 S.). Uwe Wittstock erzählt den gesamten 30. Januar unter der Überschrift „Die Hölle regiert“: Joseph Roth nimmt sofort am Morgen den Zug nach Paris, Egon Erwin Kisch trifft in Berlin ein, Klaus Mann verlässt die Stadt, Georg Kaiser und Hermann Kesten lesen die BZ-Schlagzeile „Adolf Hitler, Reichskanzler“, Carl von Ossietzky verlässt die U-Bahn, um sich den Nazi-Rummel anzusehen, Hermann Kesten und Erich Kästner bereden die mögliche Flucht in der Weinstube Schwanneke, Harry Graf Kessler sieht vorm Hotel Kaiserhof die Nazikolonnen marschieren, Hitler befasst sich mit dem Gerücht, Hammerstein wolle gegen Hindenburg putschen...so geht es über Stunden am 30. Januar, präzise literarische Miniaturen in rascher Folge, gleich packenden Filmsequenzen. Wittstock beginnt sein Buch mit einem erzählenden Großphoto vom alljährlichen Presseball am 28. Januar auf dem sich tout Berlin trifft...und endet am 15. März. Besondere Aufmerksamkeit erhalten Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Carl von Ossietzky, Nelly und Heinrich Mann, Thomas Mann, Gottfried Benn, Vicky Baum, Alfred Döblin, Ricarda Huch (!), Gabriele Tergit, Oskar Loerke, Erich Mühsam, Bert Brecht und die wichtigsten Stimmen der Preußischen Akademie der Künste, deren Um-Fall zu den beschämendsten Kapiteln der rigorosen Gleichschaltung gehört. Deutschland hat sich von dem faschistischen Furor im Februar 33 nicht mehr erholt - und Wittstock lässt es miterleben, mithören, mitlesen, aber auch mitaushalten? Hermann Göring, preußischer Innenminister nannte die Ziele der Naziherrschaft: „Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“ So geschah es. Es gingen so viele, mit Schirm und kleinem Koffer, um nicht aufzufallen...Von Seite zu Seite denkt man: Was geschähe heute in ähnlicher Lage? „Widerstand durch Mitmachen?“ Der „rasenden Verwandlung Deutschlands in eine Hölle aus Diktatur und Terror“ (Sten Nadolny), dem „Winter der Literatur“ , dem „furchtbaren Augenblick“ (Lessing) ist Uwe Wittstock gerecht geworden. Respekt!
288 Seiten
24 Euro
Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens
Alexander Verlag Berlin
Günther Rühle gebührt Respekt für seine großartigen Arbeiten zur deutschen Theatergeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945“ , ein Grundlagenwerk. Ohne ihn wären Marieluise Fleißer und Alfred Kerr kaum erkennbar geblieben. 25 Jahre war er prägender Redakteur im FAZ-Feuilleton, später beim Tagesspiegel. Frontenwechsler als Intendant in Frankfurt. Respekt soll ihm gezollt werden für etwas Außerordentliches, Unglaubliches, Einmaliges: Ein 96jähriger schreibt ein Tagebuch! Ein Mensch, der sein Leben mit kritischem Hinsehen, mit dem analytischen Blick auf die Bühne, verbracht hat, verliert die Sehkraft – „trockene Makula“ und die technisch-digitale Welt verliert ihre Konturen. Computertastatur, Radio, Faxgerät, CD-Plattenspieler, Mikrowelle mit ihrer Knopfleiste - „Auftauen“ - das zunehmend tastende Bewegen in der Wohnung, das alles muss bewältigt werden. Kleine Katastrophen zuhauf. Nun sieht er nur noch ein Ziel: „Ich wehrte mich gegen das Veraltern im Alter“, das Gefüttert-Werden, wie es den verehrten, großen klugen Köpfen widerfuhr, Walter Jens und Joachim Kaiser. Nun kämpft er gegen das „Ent...“, entbehren, entsagen, enthalten – bis zum entsorgen? Währenddessen strömen die Erinnerungen an die Kindheit, die Kollegen, die Künste. Er schreibt ein in des Wortes erster Bedeutung „merkwürdiges“ Tagebuch, vom Oktober 2020 bis zum 27. April 2021. Uneitel, voller Anekdoten, mit ironischer Milde, anti-narzistisch, verstört, aber klaglos, plötzlichen Kindheitssignalen, alltagsreal: „Seit ich nicht mehr lesen kann, haben die Tage mindestens 47 Stunden.“ „Das Altern ist eine Blüte der Hoffnungen im Zustand des Schrumpfens. Ich habe mich heute in ein Schwimmbecken von Hoffnungen gestürzt und jetzt läuft irgendwo das Wasser weg...“ Gerhard Ahrens hat aus allem ein „Tagebuch“ werden lassen, gerahmt, mit Anmerkungen gestützt und herausgegeben samt einem Nachwort „Der andere Günther Rühle“ - eine des Dankes werte Assistenz! Wie mag es Günther Rühle heute gehen? Er ist Jahrgang '24...Im Alter nicht veralten! Danke für diesen Anstoß!
232 Seiten
22, 90 Euro
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Deutscher Taschenbuchverlag
Es heißt, Juden seien Menschen wie alle anderen auch – nur ein wenig mehr. Das ist nicht überheblich, sondern selbstironisch, wie überhaupt kein Volk der Erde sich mit seinem Witz so umfassend über sich selbst lustig macht wie das jüdische. (Das kann auch gefährlich werden, wenn Antisemiten anfangen, jüdische Witze zu benutzen...) Im Alter veralten? Das kann nicht sein für Lizzie Doron, deren so mündliches, so fragendes, so streitendes, so herzzereißendes, so liebendes Buch wir hier vorstellen, nein, Ihnen ans Herz legen wollen. Sie ist 1953 in Tel Aviv geboren (heute mit Zweitwohnsitz in Kreuzberg) und erzählt mit ihrer Lebensgeschichte die Geschichte des Staates Israel. Dieses Viertel in Tel Aviv hat sie geprägt: „...in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, geht man nicht verloren. Der Mann aus Sobibor kennt die Frau aus Bergen-Belsen gut, und sie bringt mich zu der Frau aus dem Ghetto Krakau, die mich schließlich zu der richtigen Mutter aus Auschwitz zurückbringt.“ Ihre Eltern sind Schoah-Überlebende, vor allem mit der Mutter bringt das Generationenkonflikte. Lizzie – in der Grundschule wurde aus Elisabeth Alisa, später Lizzie – ist träumend-leidenschaftliche Zionistin und gerät mit der Mutter aneinander: „Ein unsagbar schönes Leben liegt vor uns, und nur meine Mutter verdirbt die Stimmung. 'Was ist denn würdiger als die Heimat?', halte ich ihr vor. 'Wem sonst sollen wir unser Leben widmen?' ' Wenn...', sagt sie, aber ich fahre ihr gleich über den Mund. Ich weiß, sie will sagen, wenn ich im Holocaust gewesen wäre, würde ich sie verstehen. 'Ist es das, was du willst?', stichle ich. 'Dass ich auch an deinem Holocaust teilnehme?' ' Die Mutter, traumatisiert, der Erinnerungen voll und von Opfererfahrungen gezeichnet – die Tochter, bereit zu Stärke, Aufbau, Verteidigung und Überlebensenergie – die Generationen dürfen nicht zerreißen! Ein Anruf aus dem Krankenhaus versetzt den Alltag in heftige Schwingungen, Yigal, die frühe und nie ganz vergessene Liebe, liegt im Sterben und bittet um eine letzte Begegnung. Yigal, er war Nähe und Horizont aller Wünsche und Träume, mit dem Zeug zum Generalstabschef und heute Friedensaktivist. Er wird sterben und sie geht aus dem Krankenzimmer, sein „Danke“ im Ohr, und sagt“ 'Bye' - als würden wir uns morgen wiedersehen.“ Damit beginnt das Buch der Erinnerungen, der Lebenskorrekturen, Kriegserlebnisse, der vielen Lebensschwingungen in einem kleinen Land, dem die Schatten der Vergangenheit die Horizonte der Zukunft noch immer nicht leuchten lassen. Lizzie Doron erzählt unbeirrbar, unbezwingbar, unbeeinträchtigt, zutiefst menschlich, geschwisterlich und mit unverwandtem Blick auf eine mögliche Mitarbeit am Frieden. „Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen“, war die zionistische Verheißung, „Was wäre wenn...“ bleibt die Aufgabe. Hat heute Lizzies Doron eine Zweitwohnung im Westberliner Kreuzberg, weil ihre Mutter noch in Polen von einem Studium in Berlin träumte, so verbindet Barbara Honigmann mit Ostberlin ihre Kindheit, Schulzeit, Studium und erste berufliche Praxis. Ein wenig kennen wir die Ostberliner Situation der Kinder zurückkehrender jüdischer Emigranten aus den Büchern von Irina Liebmann.
144 Seiten
18 Euro
Hanser Verlag
Die Eltern kamen als Juden aus englischem Exil zurück und gingen wie selbstverständlich in das „andere Deutschland“ mit seinen kleinen nichtjüdisch-jüdischen Gruppen. Heute wohnt Barbara Honigmann in Straßburg, deren jüdische Gemeinde ihr wohltut. Welcher Strömung innerhalb des dialogfreudigen Judentums gehört sie an? Liberal ? Modern-orthodox ? Darauf geht sie in einem wunderbaren kleinen Text ihres neuen Buches ein: Das Buch sammelt Dankesansprachen, deren Anlass Preisverleihungen waren, von denen sie viele erhalten hat, so viele, dass ein eigener Band sie sammeln konnte. Mit selbstgewisser Mündlichkeit spricht sie über Menschen, Themen und Orte, die mit den Auszeichnungen verbunden waren. Darunter auch den kleinen Text „ Das Problem mit der Kopfbedeckung“. Sie fühlt sich einer Gruppierung nahe, die schomer mitzvot in der Lebenspraxis üben, „ das heißt, uns ohne übertriebenen Eifer darum darum bemühen, die Gebote und Verbote zu beachten.“ Dabei werden sie Grenzgängerinnen zwischen den tonangebenden Traditionen – ein sehr bewusst gelebtes Judentum. Dem entsprechen viele der Reden, mag es um Ricarda Huch oder Elisabeth Langgässer gehen, um Jakob Wassermann oder das Paar Kafka und Proust, um „Erinnerung und Erzählung“, stets steht die Frage nach dem „un-verschämten“ Judentum im Zentrum. Sartres „ Betrachtungen zur Judenfrage“ waren 1963 bei Ullstein erschienen, das Bändchen wurde von West- nach Ostberlin durchgeschmuggelt und die vierzehnjährige Barbara Honigmann entdeckte, dass der Titel „Juif inauthentique“ mit „verschämter Jude“ übersetzt worden war. „Inauthentique“ ist nicht „verschämt“ - sondern „authentisch“, besser: kräftiger, klarer „un-verschämt“! „Wahrscheinlich ringe ich seit meiner Lektüre dieses Buches als 14jährige damit, mein Judentum, in das ich hineingeboren wurde, un-verschämt zu leben und schließlich, erwachsen geworden, auch so davon zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben“. Und angesichts der erworbenen Selbstgewissheit und ausstrahlenden Freude, mit der sie das tut, kann man sich nur verbeugen, ihr zuhören und viel von ihr lernen! Vielleicht auch die charmante Gelassenheit? „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ – welch ein Geschenk!
159 Seiten
20 Euro
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag
Es ist Pandemiezeit, man bleibt besser zu Hause. Ljudmila Ulitzkaja nutzt die Zeit zum Aufräumen alter Papiere. Da fällt ihr ein Manuskript von 1978 in die Hände, „Tschuma“, heißt es , „Die Pest“ - ein Pestausbruch in Moskau, der dank einer dichten Schweigemauer und des extrem effizienten NKWD nahezu unbekannt geblieben. Der Vater einer Freundin war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt – er erzählte davon...und Ulitzkaja als interessierte Genetikerin nahm den Stoff auf, entwarf ein „Szenario“ und bewarb sich damit für einen Drehbuchkurs. Der Text verschwand in der Schublade – bis sie ihn wieder entdeckte, sehr zeit-gerecht, überaus aktuell. Da aber gerade Camus' „Pest“ ständig gedruckt wurde, bekam Ulitzkajas „Tschuma“ den Titel „Eine Seuche in der Stadt“; sehr zutreffend und mit dem Wort „Seuche“ dicht an der drohenden Moskauer Katastrophe. Karl Schlögel hat in „Traum und Terror“ die Jahre 1938/39 in der UDSSR mit ihren alptraumhaften Prozessen und Säuberungen beschrieben. „Schwarze Raben“, die Verhaftungswagen des NKWD fuhren zu vielen Adressen, zu denen der schon Infizierten und zu denen der bald Inhaftierten. Die Prozess-Schatten fallen auch in die Pestbekämpfung. Was war geschehen? Ein Forscher hatte sich, irritiert durch einen Anruf, der ihn nach Moskau beorderte, unversehens angesteckt, war auf der Reise vielen Menschen begegnet, in Moskau mit Kollegen Gespräche geführt, erkrankte augenfällig und allen Beteiligten war klar: Pest! Mit unvorstellbarer Rasanz geschieht nun eine Totalabsperrung, sämtliche denkbare Quarantänemaßnahmen werden ergriffen, die Kontaktverfolgung des Infizierten vollzieht sich mit dem NKWD-Apparat perfekt und hocheffizient. Spätestens jetzt ist es unmöglich, beim Lesen zu unterbrechen. Dann tritt auch ein „Sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ auf, der kabarettreif sagt: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung'. Der Volkskommissar erstarrt. 'Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung'“ Es gibt groteske wie beklemmende Szenen. Der vollständige Staatsapparat wird vorgeführt, noch immer ein Alptraum. Es gibt Helden, Bösewichte und Ungerührte. Der Text ist keine Blaupause für heute, dennoch geben wir Ljudmila Ulitzkaja das Schlusswort „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung...uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Ansicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“
112 Seiten
18 Euro
Erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken
Kulturverlag Kadmos
Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, all die Bruchstücke der Welt – Erfahrungen, Träume, unverhoffte Begegnungen, gelungene Zeiten des Glücks – zusammenzufügen. Das gelingt am ehesten mit einem liebevollen Blick, einer behutsamen Zuwendung. Die erste Leistung einer Erzählung ist, dass sie Entferntes herbeiholt. Geschehenes in die Gegenwart holt. Geschieht das bei biblischen Geschichten und wird die größte Unfallursache beim Erzählen, die gute Absicht, vermieden, kommt es zu lebhaften Entdeckungen. Das ist geglückt in diesem Band. Nacherzählen heißt neu erzählen und so heißt es zu Beginn: „Für Leo, Carlo und Hannah“, Enkel sind oft erste Adressaten...Ein jüdischer Geburtstagsglückwunsch heißt „Auf 120 Jahre!“ - so wird die Erzählung allen Altern empfohlen! Man möchte gleich den Eingang „Der erste Tag der Schöpfung“ zitieren, weil mit dem „Anfang“ schon der erzähllustige, mithörend-fragende, lehrend-heitere, Kenntnis verschenkende, liebevoll-deutende, Antworten erprobende und mit suchbereit-erstauntem Humor der Ton angegeben wird. Nie „gute Absichten“, nie fade vorhersehbar, im Gegenteil: mit solidarischer Detektivarbeit beim Begreifenwollen, beim lupennahen Mitlesen ist der Erzähler den Mithörenden nahe und weiß manchmal selber nicht, was „hat es zu bedeuten“. Der Erzähler als Mithörer, der nie das Perfekt wählt und damit alles weiß, sondern das Im-perfekte, das Unabgeschlossene scheint ihn wie die Lesenden nicht loszulassen. Da gibt es bei den sieben Schöpfungstagen so viel zum Kopfschütteln und Kopfnicken, Kopfsenken und Kopfheben, dass man nur rufen kannn: „einen Einser für den Schöpfer der Welt!“ Es wird auch oft leise beim Erzählen, ein verschwebendes Schweigen...Man hat gesagt, Literatur gründe auf liebevoller Zuneigung, ja, und hier kommen die von Behutsamkeit erfüllten, zärtlich hingetupften, dazwischen geschubsten Illustrationen hinzu, die vieles anschaubar, ansehnlich machen. Der Ordinarius, der „Hoch“-schullehrer für Neues Testament und Jüdische Studien, verlässt seinen Lehrstuhl und setzt sich in den Kreis jüngerer und älterer Zeitgenossen, hört mit, denkt mit und teilt mit - hier und da aus dem Schatz des Erlernten - zu Nutzen und großer Freude aller Generation.
153 Seiten
19,90 Euro
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Wallstein Verlag
Der Wilnaer Historiker Svedas führte 13 Gespräche mit der kulturellpolitischen Stimme Litauens, Irena Veisaite, die jeweils schöne Titel haben - „Die Überlebenden haben die Pflicht zu vergeben und die Zukunft aufzubauen“ oder „Die Arbeit war für mich eine Mission.“ Persönliche Bilder sind eingestreut und am Ende steht ein Text „Anstelle eines Epilogs“ mit dem sympathischen Eingeständnis: „Mir kommen immer mehr Fragen – und immer weniger Antworten.“ Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es unmöglich erscheint, nur einmal eine Pause einzulegen. Irena Veisaite hat zwischen dem 9. Januar 1928 und dem 11. Dezember 1920 ein Jahrhundertleben geführt, das alles in sich aufgenommen hat, was dieses Jahrhundert geprägt hat – gleich einem langen Fries der wichtigsten Ereignisse in Bildern, einem Gobelin gleich, dem die historischen Umstürze und Wellen, Abgründe und Aufbrüche eingewoben sind. „Überleben, um zu erzählen“, diese Intention verbindet sie mit Ruth Klüger, die zwei Monate vor ihr starb. Dem Wallstein Verlag verdanken wir: Zwei Zeuginnen des Jahrhunderts, deren Lebensgeschichten einen unverkennbaren Trotz, einen unbändigen Willen zum Unbesänftigtsein aufweisen angesichts der Aufgaben zu erinnern, zu erzählen, zu bezeugen, was geschah. Das Kindheits- und Jugendkapitel - „Das Leben sollte klar sein“ erzählt vom frühen unlösbaren Verflochtensein in eine jüdische und litauische Herkunft. Bei einer Reise mit dem Vater nach Berlin, verweist er sie auf die öffentlichen Bänke mit rassistischem Sitzverbot und schärft ihr ein, Platz zu nehmen, obwohl sie „litauische“ Papiere hatten, die nichts von ihrem Judentum sagten – eine unvergessliche Erfahrung. Das Literaturhaus Berlin zeigt im Internet ein Gespräch Irena Veisaites mit Aleida Assmann und der Übersetzerin Claudia Sinnig, der wir viele Entdeckungen litauischer Literatur verdanken, in dem diese Jugenderfahrung zeichenhaft für ein ganzes Leben steht. Aleida Assmann stellt diese Szene vor das ganze Leben: Sie lebe in einem „Erinnerungsexil“, wen interessiere jüdisches Leben in Litauen...? Mit dem Einmarsch von Wehrmacht und SS in Litauen im Juni 1941 musste sie mit Tante und Großeltern ins Ghetto Kaunas umsiedeln. Die schwerkranke Mutter gab ihr in der Klinik den letzten Lebensratschlag: Sie solle selbstständig sein, mit der Wahrheit leben und nie Rache üben. Nun liegen dies intensiven Erinnerungen einer alten Frau vor, die mit 13 Jahren in der Untergrundschule im Kaunaer Ghetto Schillers Balladen lernte, unter der Diktatur der SS bis zum Umfallen Zwangsarbeit verrichten musste, als Studentin über Heinrich Heine promovierte und mit den Jahren 7 Sprachen sprach. Sie überlebte nach der Flucht aus dem Ghetto im Schutz einer litauischen Familie, die sie mit der Zeit als Familienmitglied anerkannte – sie sprach ohne jiddischen Akzent. Nach dem Sommer '44 kam die „zweite Besetzung“, aber auch die Befreiung zum Leben und Lernen. Um sie kümmerte sich niemand, es gab ausschließlich sowjetische Opfer des Faschismus. Sie studiert in Moskau und Vilnius und lehrt alsbald Literatur und Theatergeschichte. Im Jahr der Unabhängigkeit ist 62 Jahre, hat zwei Diktaturen überlebt und hat Mühen, die zwei Geschichten zu erzählen: Die der Kollaboration von Teilen des Volkes mit NaziDeutschland und der Zeit unter Sowjetherrschaft. Es war ihr immer wichtig festzuhalten, wie zerbrechlich Moral, Kultur und Menschlichkeit sein können, droht ihnen die politische Macht. Sieht man die Seiten „Lebensdaten“ durch, fragt man, welche Auszeichnung, welchen Orden und welche Ehrung sie nicht erhalten hat; doch hört man ihr zu, ist die größte Ehrung, ihr zuzuhören, ein „Jahrhundertleben in Litauen“ wahr zu nehmen. Helmut Ruppel
428 Seiten
24€
Übersetzt von Thomas Reschke. Mit einem Nachwort von Navid Kermani
Aufbau Verlag
Navid Kermani, auf seinen Reisen wohlvertraut mit der Region, hält mit tiefer Erschütterung fest, wie es dem Autor gelingt, beim Lesenden Hunger nachzuempfinden bis die Magenwände schmerzen. Die Geschichte der Waisenkinder und Zwillinge Saschka und Kolka auf ihrer Deportation mit anderen Moskauer Waisen nach Tschetschenien ist so mikroskopisch dicht, so unentrinnbar nahe erzählt, dass einem der Atem ständig stockt. Mit sprachloser Bewunderung nimmt man die Anstrengung wahr, den Tschetschenen gerecht zu werden – ein totales Tabu in der UDSSR. Am besten, man beginnt gleich mit Michail Lermontow, zweimal in den Kaukasus verbannt, ihm ist die lyrische Titelzeile zu verdanken. Die Veröffentlichungsgeschichte des Bandes ist schon selbst ein Elend. Navid Kermani ist die vorliegende Buchform zu verdanken. Tschetschenien, die Moskauer Waisen, der Hunger, der Kaukasus, Pristawkin und das Buch – unbegreiflich, aber lesen können wir es. Helmut Ruppel
319 Seiten
22€
hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte
Friedenauer Presse
Hebel und Brecht sind die großen Meister deutscher Kalendergeschichten – kunstvoll knapp, überraschend unüblich, verblüffend und verwegen, zwischen Aphorismus und Wälzer die Traumform. Politisch und kapriziös zugleich, das gibt's nur einmal. Kein Heiligenkalender, kein Mondkalender, kein Terminkalender, kein Jahreszeitenkalender, sondern "Ein ganzes Jahr. Mein Kalender". Nur ein Beispiel: „Juni – 18 – 1936. Tod des russischen und sowjetischen Schriftstellers, Dramatikers und der Person des öffentlichen Lebens Maxim Gorki. - Im Schulflur hingen Klassikerporträts, darunter auch Gorki. Gorki hatte einen erstaunlich traurigen und weinerlichen Gesichtsausdruck. Immer wenn Smirnow daran vorbeiging und das Porträt anschaute, sagte: „Nicht weinen, Gorki, nicht weinen. Willst du ein Bonbon?“ Alle lachten bereitwillig. Ich auch.“ So bitterlustig kann ein Bücherbrief nicht enden. Wir beginnen noch einmal mit einer Notiz Anton Tschechows in seiner Erzählung „Das Glück“. Zwei Hirten und ein Aufseher verbringen die Nacht in einer endlosen Steppe. Die Hirten erzählen sich vom Glück, das im Finden, im Aufspüren unvorstellbar großer Goldhaufen besteht. Der Aufseher schweigt; er hat offensichtlich eine andere Vorstellung vom Glück. „Sein strenges Gesicht war traurig und spöttisch, er schien enttäuscht.“ Einmal sagt er über die Möglichkeit des Glücks: „Ja, der Ellenbogen ist nahe, aber versuch mal reinzubeißen."
448 Seiten, 32€
Gaito Gasdanow. Schwarze Schwäne. Erzählungen
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag, 271 Seiten, 24€
Gaito Gasdanow. Nächtliche Wege. Roman
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christine Körner
dtv Verlag, 288 Seiten, 10.90€
„Es gibt Bücher, denen man nur seine Liebe erklären kann. 'Schwarze Schwäne' ist so ein Buch“, diesen glückseligen Stoßseufzer (Juliane Liebert) kann man steigern mit dem Hinweis, dass es „nur“ neun Erzählungen sind von den 50 veröffentlichten, wir also 41 noch erwarten dürfen – wenn Rosemarie Tietze ihre Schatzgräberinnen-Arbeit fortsetzt! Ihre jeweiligen „Anmerkungen“ zu den neun Erzählungen sind kenntnisreich, literaturgeschichtlich einordnend, erhellen die Hintergrund und Entstehungssituationen, helfen bei philologischen Verstehensproblemen. Das Nachwort „Erlebtes und Erdachtes, Kurzprosa aus einer russischen Emigrantenwelt“ ist eine glänzende Einführung in Leben, Werk und Lebenswelt des Gaito Gasdanow, von dem die deutsche Literaturwelt zu ihrem eigenen Schaden so lange nichts wusste! Mit den, Sommergewittern gleich, in unsere Literaturwelt (und unsere Russlandbilder!) hereinbrechenden Romanen „Ein Abend bei Claire“ und dem „Phantom des Alexander Wolf“, gab es schon einen unerhörten Auftritt. Das Gesamtwerk enthält auch Erzählungen vom „Russischen Montparnass“, dem Montblanc der russischen Exil-Autoren in Paris der frühen zwanziger Jahre. Iwan Bunin, Marina Zwetajewna, später Vladimir Nabokov, kamen mit einem Namen -wer kannte Gasdanow? Er hatte zwar schon ein windungsreiches Leben hinter sich – Kindsoldat bei den „Weißen“, Abiturient in Bulgarien, hingebungsvoller Student und gleichzeitig Nachttaxifahrer in Paris, den Autorentreffpunkten „Grüne Lampe“ und „Nomadenlager“ (!) zugehörig – aber: wer kannte Gasdanow? Im „Verband russischer Chauffeure“ (1200 Mitglieder) kannte man ihn gewiss, aber literarisch? Erst der „Abend mit Claire“gab ihm (1929/30) einen Namen, später mit Nabokov im gleichen Atemzug erwähnt zu werden. Rosemarie Tietze erzählt und übersetzt, erläutert und betreut seine „Schwäne“ wie Christine Körner seine „Nächtlichen Wege“, einen Roman, aus dem auch 7 bis 9 Erzählungen komponiert werden könnten. Ihre Anmerkungen sind sehr hilfreich und ihr Nachwort machte sich exzellent als Vorwort: „Die fremde Stadt in einem fernen und fremden Land. Nächtliche Wege durch die Welt des Absurden.“ Wenn es Bücher gibt, denen man nur seine Liebe erklären kann, und die „Schwarzen Schwäne“ gehören gewiss dazu, sollten doch wenige Sätze darüber hinaus laut werden. Vielleicht aus der „Genossin Brack“, einer Frau, die in der falschen Zeit lebte, aber zu den Frauen gehörte, „die imstande seinen, eine Epoche zu verkörpern,“? Vielleicht aus den „Hawaiigitarren“, wo wir uns in einem Salon wiederfinden, der einer „vielleicht dreißigjährigen Dame“gehört, bei der man nach einer Beerdigung auf morastigem und nebligen Friedhof zusammensitzt und Champagner trinkt, „um zu vergessen.“ Vielleicht aus „Hannah“, wo es mit genial warmherziger Illusionslosigkeit heißt: „Mir gehörte das allerbeste, wovon ich nur träumen konnte. Hannahs warme Haut, ihre erstaunliche Stimme, ihre zärtlichen Hände. Das war einzigartig, war grandios, hatte nur den einzigen Nachteil, dass es Realität war.“ Helmut Ruppel
Suhrkamp und Jüdischer Verlag
Ein Familienroman? Der Titel erinnert an die Buddenbrooks, Die Brüder Karamasow, Gruppenbild mit Dame; ein Mehr-Generationen-Roman? Gershom und seine Brüder? Das Buch beginnt wie die Buddenbrooks mit einer Familienaufstellung. Aber: Der Autor Jay H. Geller ist Professor für politische Geschichte an der Universität von Cleveland, Ohio, US, und hat zuvor quellenreiche Studien über Juden in Deutschland vorgelegt. Was genau ist dieses Buch also? Eine lebhaft dramatische Familienbiographie oder eine brillant präzise Sozial- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Judentums? Die große und beglückende Überraschung besteht in der gelingenden Zusammenfügung, in dem spannungsvollen Verweben beider Erzählstränge: Familie und Fachanalyse, der liebevollen Nachzeichnung der höchst eigenwilligen Brüder und ihrem untrennbaren Zusammenhalt, dem Bild der alles zusammenhaltenden Mutter, vor allem der Söhne mit ihrer nicht zu dämpfenden Widerborstigkeit gegenüber den Eltern und einander – da sind: ein glühend liebender Erforscher jüdischer Mystik, ein hitzköpfiger kommunistischer Reichstagsabgeordneter, der beim Familienfest zum Kaisergeburtstag „Hoch Liebknecht!“ ausruft und vom tobenden Vater, einem von Grund auf konservativen, deutschen Juden des Kaiserreiches, vor die Tür gesetzt wird, ein national-liberaler Geschäftsmann, der im australischen Exil noch in den Krieg gegen Deutschland eintreten würde und ein national-konservativer, säkular gesinntenr Bruder, der jedoch in der jüdischen Tradition beerdigt werden will – und deren Gattinnen… Dies pointiert gezeichnete Familienporträt setzt der Autor in das kulturpolitisch sorgsam ausgemalte Landschaftsbild der Jahre vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, in der fast keine Spuren mehr der Scholemschen Familiengeschichte zu finden sind – im Gegensatz zu den fast nicht mehr überschaubaren Hindenburgstraßen und Hindenburgplätzen...
Wie es Geller gelingt, diese Kapitel voller Zahlen, Ereignisse, Orte und Widerfahrnissen mit den Fäden der auseinanderstrebenden Lebensläufe zu verknüpfen, ist bewundernswert und lässt uns nur mit Herzklopfen umblättern. Angesichts der bewegenden Lebensbilder lernt man den datendichten Kontext und die genau gesetzte Zahlenfülle mühelos mit. Die Übersetzerin Ruth Keen und der Bearbeiter Erhard Stölting haben gewiss ihren Teil zum Narrativen einerseits und zum Dokumentierenden andererseits beigetragen. Die 130 gedrängten Seiten Anmerkungen sind eine vorzügliche Anleitung, mehr noch, eine verführerische Anleitung zum Geschichtsstudium in einer Stadt wie Berlin.
Geller gewinnt seine erzählerische Einfühlungskraft, Aura, Töne und Farben aus dem herzbewegenden Briefwechsel, an den wir hier noch einmal erinnern: Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946 und der unvergleichlichen Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin. Die Erzähl- und historische Entfaltungsmelodie kann sich dem Satz Kafkas nicht entziehen, der in genialer Verdichtung das Judentum begreift, sich begreift: „Sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm gehören“. Das und ist das Offenbare des Judentums: Im Dasein, in der Welt sein und Gott allein gehören. Da ist wohl der Grund des Verhasstseins, das Nie-Eingehen in eine andere nationale, politische, ideologische oder kulturelle Für-Immer-Bindung. An der Scholem-Geschichte kann man es sehen und lernen: In der Welt leben und ausschließlich Ihm gehören – mit allem Schmerz und Verfolgung und nie aufzugebender Bindung an Ihn...Geller erzählt und entrollt historisch ein weiteres Mal diese Lektion, Zeile für Zeile.
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ - gegenwärtig wird es mehr beschworen als erinnert. Dieses Buch nimmt es im buchstäblichen Sinne wahr. Helmut Ruppel
463 Seiten
€ 25
Heyne Verlag
"9 Lessons for a Remarkable Life", der originale Titel macht es einerseits noch hörbarer, das bemerkenswerte Leben, das Ferencz keineswegs trumphaft meint, sondern mit viel Ironie und Schalk, während der deutsche Titel Sag immer deine Wahrheit ihn, Ferencz, treffend zur Sprache bringt. Unter den Hundertjährigen, die gegenwärtig die literarische Welt bevölkern, ist er derjenige, der am meisten erlebt und zu erzählen hat, lebhaft, liebenswert schnoddrig und in weiser Weise hilfsbereit – ein 160 Seiten starkes wohltuendes Schmerz- und Stärkungsmittel, dreimal am Tag 5 große Esslöffel, ohne Cortison, pardon, 20 Seiten täglich, bei umwerfend bester Laune und sehr ernst – eine Mischung, zu der man wohl 100 Jahre braucht. Als Kind muss er schon so gewesen sein. Von wem ist die Rede?
Der Einwanderungsbeamte auf Ellis Island fragte die Eltern, nach einem Blick in das Babykörbchen, „Name?“ Die Eltern konnten nur Rumänisch und Jiddisch und sagten Berell. Der Beamte verstand Bella, blickte wieder ins Körbchen und entschied „4 Monate“. So wanderte Benjamin Ferencz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Vereinigten Staaten ein als vier Monate altes Mädchen. Das erfuhr er durch Zufall an seinem 84. Geburtstag.
Da hatte er schon einiges Bemerkenswertes getan für sein Land? Ja, auch, mehr aber für die Menschlichkeit allerorten, vor allem aber als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen bis zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs. Die Kapitelüberschriften reihen Köstlichkeiten aneinander: Die Augen offen, die Hände am Steuer (Schlusskapitel! Er ist Hundert!), Über die Wahrheit – sprich sie aus, auch wenn niemand zuhört, Man muss nicht mit dem Strom schwimmen, Der Weg ist immer steinig und führt niemals geradeaus, Es gibt Wichtigeres, als die Welt zu retten. Ferencz lebte, handelte, schrieb und prozessierte nach einem Prinzip: Wenn es um Menschlichkeit geht, gib es kein Wenn und Aber. Es durchzieht das Buch des Hundertjährigen wie ein Wärmestrom: Wie heilt man ein gebrochenes Herz? Diese Frage ähnelt der nach einer friedlichen Welt. Es gibt auf beide eine 10 Bände umfassende Antwort und eine, die nur aus einem Wort besteht: langsam. So erzählt er dahin: klug, warmherzig, erfahren und freundlich. Über seine Frau sagt er: "Dass ich ihre Zuneigung gewonnen habe, betrachte ich als meinen wichtigsten Sieg". Wir verdanken auch ihr dieses Buch! In Stunden der Einsamkeit, der Resignation und der Enttäuschungen zu Ferencz greifen, denn er kann einen Rat geben! "Die besten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, sind Redlichkeit, Warmherzigkeit und Toleranz. Tu niemals etwas, für das du dich schämst!"
Helmut Ruppel
160 Seiten
17€
Suhrkamp Verlag
Von den Spielgefährten aus der Nachbarschaft in Czernowitz bis zu den Zeitgenossen, die von seinem Tod erfahren, versammelt Rychlo 55 Stimmen (!) aus den Phasen und von den Orten seines Lebens, darunter ein Bericht über seinen Berlin-Aufenthalt im Dezember 1967, zu dem, wie Marlies Janz sich erinnert, „eine Fahrt durch das verschneite Dahlem über Grunewald und Halensee und hinunter (!) zum Savignyplatz“ gehörte. Eine Lesung in der vollbesetzten Akademie der Künste konnte ich besuchen, erinnere mich aber an kein Gedicht, nur an den schmalen, gebeugten Mann, der mit einer schmalen Aktentasche die Stufen zur Bühne etwas mühsam hinaufstieg und dann mit einer halb singenden Stimme zu lesen begann.
Es sind die Lebensorte Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris, die Celans Leben prägten, unter denen Czernowitz in den sechziger Jahren fast eine mythische Bedeutung hatte; vom Bukarester literarischen Leben wusste man nichts – diese Orte und ihre Büchermenschen zu erschließen, kommt für uns der Entdeckung literarischer Provinz gleich. Jacques Derrida, Paris, und Ilana Shmueli, Jerusalem, sollten hervorgehoben werden, was gegenüber allen anderen Stimmen ungerecht ist, pardon, doch ist ihr Blick auf Celan, seine Sprache und seine Bilderheimat unvergleichlich eindringlich. Rychlo fügt einen hundertseitigen Kommentar hinzu, sein unverwechselbares Celan-Bild, geprägt vom lebenslangem Wohnen in Celans Werk und an seinem ersten Ort.
469 Seiten
28€
Herder Verlag
Unter den Beiträgen des katholischen Dogmatikers in Wien sind hervorzuheben: Beten nach der Shoah und Totengedenken und Lobverweigerung. Er diskutiert die Frage, ob der Zyklus Niemandsrose eine Anti-Bibel ist. Für die Theologie ist Celans Dichtung gegenwärtig die ernsthafteste Herausforderung. Die Lobverweigerung ist eine elementare Anfrage an kirchliches, aber auch politisches Sprechen.
Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache - Wilhelm von Humboldts starker Satz vor der Berliner Akademie 1820 wird im Werk Celans deswegen so andrängend, weil ihm die Sprache ausgeht, was auch durch Übertreibung einer bloß kommunikativen Funktion und einen – digital verschuldeten – falschen Purismus nicht behoben werden kann. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant, früher Freie Universität Berlin, warnt vor einer Sprachdämmerung, weil nur eine globale Sprache Macht verspricht. Da kann eine gewisse heitere Souveränität im Umgang mit der Sprache geradezu erlösend wirken und aufatmen lassen. Wir wussten schon immer. An ihren Adjektiven sollt ihr sie erkennen und dass die rückhaltlosen Aufklärungen, die Frau Klöckner bei allen Lebensmittelskandalen versprach, schon mit dem Aussprechen jeden Rückhalt los waren.
352 Seiten
28€
Michael Maar.
Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur
Rowohlt Verlag, 658 Seiten, 34€
Paul Maar
Wie alles kam. Roman meiner Kindheit
S. Fischer Verlag, 304 Seiten, 22€
Paul Maar ist der einzige deutsche Autor, der im direkten Vergleich mit Donald Trump fröhliche, lebhafte Stürme auf das (Dahlemer Kino) Capitol erzeugen konnte, wo das kleine Sams zu sehen war, sein liebenswürdiges Kinderbuch. Gute Mär von Paul Maar, böser Krampf von Donald Trump. Hier hätte sein Sohn gleich eingegriffen, denn solche gezwungene Reime sind schlechter Stil! Und dem widmet er ein Stil-Lesebuch mit exemplarischen Texten von Knef bis Kafka und vielen Autoren aus seiner höchst privaten Lieblingsbibliothek. Lesen, Lernen und Lachen sind nun gerade keine literaturwissenschaftlich regierende Trinität in Deutschland! Sie aber lassen die Suche nach dem Geheimnis großer Literatur zu einer der bekömmlichsten Exkursionen für das lesende Publikum werden. Es beginnt (Dank an Eva Menasse!) mit dem Titel: So etwas von verunglückt!. Das ähnelt schon Und mit frischem Mut warf sie ihren Ring in den Hut! Von der Zeichensetzung über die Stilmittel - Die Instrumente zeigen zu den literarischen Provinzen – K.u. K - und dazwischen ein Literaturquiz als Verbeugung vor den Dauerquizsendungen des Fernsehens! Und immer wieder Urteile und Urteile, bei Nabokov sympathisch subtil, bei Kafka ein unerschütterbares Sehr gut!, Thomas Mann erhält schmerzendes Lob, Hildegard Knef ein verblüfftes Geht doch!, und eine – oijoijoi - Seitenexkursion in die erotische Literatur zu Bambi und der Wienerin Josphine M., beide Felix Saltens Feder entsprungen. Mich hat immer interessiert, wer wie warum gut schreibt. Hier ist Michael Maars gut geschriebene Antwort, mit einem Titelbild von Andre Derain, The Cup of Tea (1935). Anfang des Jahres spielte er mit Buchtiteln (Süd. Zeitung, 15.1.) und konstatierte, dass Die Unvernünftigen sterben aus (Peter Handke) leider ein leeres Versprechen blieb, Der Besuch der alten Dame (Friedrich Dürrenmatt) nicht erlaubt war, aber die Hoffnung blieb, dass einmal ein Abend mit Goldrand (Arno Schmidt) kommen könnte und wir alle sehen 'Licht im August (William Faulkner).
Die Altmeister Ludwig Reiners mit der Stilfibel und Wolf Schneider mit Deutsch , dem Handbuch für attraktive Texte (!) sind redlich und verlässlich, Michael Maar lädt ein zum Lesefest, frei vom Kanon und ohne Böll und Grass, ein Füllhorn auch zum Vorlesen, zuweilen mit einer Prise Altväterlichkeit, die würzt und bekömmlich ist.
Berenberg Verlag
Krüger sagt, was viele seiner Generation (1943) auch sagen können: Suhrkamp war meine Universität, andere sagen Hanser ist meine Bibliothek, ob es mit den Akzenten begann oder mit Ecos Der Name der Rose oder der Gelben Reihe. Krüger erzählt in einem Interview mit Matthias Bormuth, wie eine (west-) deutsche Verlagsgeschichte verläuft, einst vertraute Namen (Lettau!) tauchen auf und bundesrepublikanische Krisen. Die so lebhaft wie anstrengende Freundschaft mit Zbigniew Herbert wird porträtiert und die Geschichte des Petrarca-Preises, Beispiel einer europäisch engagierten Literatur. Das Gebet-Gedicht „Herr, dank sag ich Dir für diesen Lebenskrempel“ ist ein ergreifender Höhepunkt des Bandes. Dank an Michael Krüger und dass ihm Lebenszeit geschenkt werden möge!
Helmut Ruppel
144 Seiten
20€
Wallstein Verlag
Von dem Pfarrer, Erzähler und Lyriker Kurt Marti wird oft gesagt, er schreibe Theopoesie - eine gewundene Verlegenheit. Was wären dann die Psalmen? Theopoesie zeugt noch von der Spaltung in biblisches und dichterisches Sprechen, was schon immer falsch war. Marti intoniert die biblische Dichtung, was seine Predigten kräftigt und seinen Gedichten Klang, Farbe und vor allem Weisheit verleiht (Leichenreden). In den Texten aus dem Nachlass sind es die sehnsuchtsvollen Nach-Gedanken auf seine verstorbene Frau, das bittere Vermissen und die Klage über das Verlassensein: Doch jetzt bin ich/ohne dich/ nur noch vorhanden. Er erwähnt seinen Gott nur selten, denn der ist kein Lückenbüßer. Vor dessen Angesicht kann er noch - humorvoll und verzweifelt - über seine Lage klagen: bin nicht in der lage / bin fast nie in der lage /bin überhaupt / in keiner lage mehr /mein los/ heißt lagelos /wie werd ich /diese lage los? Der Band hat ein herzbewegendes Titelbild.
90 Seiten
14, 90€
Bücherbrief mit freundlichen Grüßen aus Schleichers Buchhandlung in Berlin-Dahlem Sommer 2020
Pandemisch ? - Panepisch !
In Zeiten der „abgesagten Anwesenheit“ tut es gut, verloren gegangenen Büchern wieder Anwesenheit zugeben, ja, sie zu ent-decken, sie wahr zu nehmen, nach dem sie uns und auch ihren Autoren lange Zeit vorenthalten wurden. Diese Buch-Geschichte Osteuropas muss erst noch geschrieben werden, dann wird aber dazugehören ein Meisterwerk, das alle Maßstäbe durchbricht und in seiner ungestümen Wortkraft und erzählerischen Energie, unaufhaltsamen Darstellungsexplosion und so rasenden wie mikroskopisch präzisen Beschreibungsrasanz im Sinne des Wortes ein-malig ist. Wer sich um Punkte, Kommata, geschweige denn Absätze bemüht, wird rasch aufgeben. Das Leben ist kein stiller langer Fluss, es ist ein kataraktähnlicher Schnellstrom und dabei genau, detailliert, ein präzise sich reihender Bilderfluss.
Um wen und was geht es? Leonid Zypkin, Ein Sommer in Baden-Baden, im März erschienen samt dem
Erstlingswerk des Autors: „Eine Brücke über den Fluss“. Um beide Bände müht sich der Aufbau-Verlag:
Dem „Sommer in Baden-Baden“ gibt er ein brillantes Vorwort von Susan Sontag hinzu und das „St. Petersburg-Album“ des Autors, der „Brücke“ ein berührendes Nachwort des Sohnes Michael Zypkin, das über den historischen Hintergrund aufklärt. Die Leistungen im Übersetzen von Alfred Frank und Ganna-Maria Braungardt fordern auch dem Nicht-Russischkenner großen Respekt ab.
Wer war Leonid Zypkin? In dem Ramschkasten zerfledderter Taschenbücher vor einer Londoner Buchhandlung stieß Susan Sontag auf einen Band, den sie bald „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.“ Gibt es das, ein noch heute verborgenes literarisches Meisterwerk? Ja, dass es auf uns gekommen ist, grenzt an ein Wunder! Leonid Zypkin kam 1926 in Minsk zur Welt, es war eine Welt des russischen Judentums, weit verzweigt in der wissenschaftlichen und künstlerischen Elite des Landes. Es mutet seltsam an, dass er beruflich sich auf tödliche Virusinfektionen und die Einführung der Polioschutzimpfungen spezialisierte. Zwei lebensbedrohende Gegner mussten Familie, Verwandtschaft und Freundschaft überleben: den Großen Terror ab 1934 – zur Erinnerung. Karl Schlögel, Traum und Terror, Moskau 1937 - und den allzeit gewalttätigen Antisemitismus. Paart sich der letztere wie auch zunehmend bei uns mit einer der verheerendsten und unbesiegbarsten Mächte dieser Welt, der Dummheit, geht es nur noch ums Überleben. Kommt zur Dummheit die Bosheit hinzu, scheint alles verloren. (Wenn das „Weiße Haus“ 2020 den Sieg über den deutschen Faschismus ausschließlich Amerika und England zuschreibt, ist es schon geschehen...)
Nach den Mühen des Überlebens, die Susan Sontag rekonstruiert, wendet sich Zypkin mit Beginn der sechziger Jahre dem literarischen Arbeiten zu. Mit der Literatur hatte er von Anfang an geflirtet, Pasternak war der Stern seiner Jugend. Aber er schrieb für die Schublade, er fürchtete den KGB und liebte seine Familie. Dem Sohn Michael und seiner Frau Jelena gelang es 1977, Ausreisevisa in die USA zu erlangen,was die Eltern mit Demütigungen zu bezahlen hatten, Rückstufungen, Verlust der zwei Doktortitel, soziale Isolation. Folge: Zypkin fing an zu schreiben und es begann das hochriskante Abenteuer, Manuskripte durch den Eisernen Vorhang (welch ein Name!) in die USA zu... „bringen“. Am 13. März 1982 erschien die erste Folge seines Romans in einer russischen Emigrantenzeitschrift in New York. Sein Sohn rief am 15.März an und teilte es dem Vater mit. Am 20. März erlitt Leonid einen Herzanfall und starb. Er war sieben Tage lang ein veröffentlichter russischer Schriftsteller gewesen – und es war ein Meisterwerk! Ob nun seriös und subtil, ob deftig und plakativ – was immer die Werbung sagt - Es ist so!
„Ein Sommer in Baden-Baden“, von einem Russen geschrieben - das ist keine Pastorale, das meint Dostojewski! Zuvor noch eine Erinnerung: In Wassili Grossmans Erzählungsband „Tiergarten“, (Claassen, Band 2009, 119-130) finden wir die Erzählung „ Die Sixtinische Madonna“ mit einer bewegenden Auslegung von Raffaels Bild. Bevor es wieder nach Dresden zurückgebrachr wurde, war es im Moskauer Puschkin-Museum noch einmal 90 Tage zu sehen. Grossman stand in einer Warteschlange und Zypkin stand in einer Warteschlange Sie kannten einander nicht. Zypkin wusste, dass eine Reproduktion über Dostojewskis Schreibtisch hing. Er hat aber Grossman nicht gelesen und Grossman wusste nichts vom Ort des Bildes an Dostojewskis Arbeitsplatz...
Vom Roman sagt Susan Sontag: „Nichts ist erfunden. Alles ist erfunden.“ Und das in einem atemnehmenden Ineinanderverwobensein aller nur möglichen Ebenen: Des Lebens von Fjodor („Fedja“) Dostojewski und seiner jungen Frau Anna Grigorjewna, des Lebens von Leonid Zypkin und seiner Frau Natalja Michnikowa, des Lebens der Eltern, der Jahre vor und nach dem Großen Terror, der Jahre in Baden-Baden, der vielen Personen und Stationen in Dostojewskis Romanen und Erzählungen, der Wohnorte und Häuser in St. Petersburg.
Es gibt nur ein „Jetzt“, in das alles zusammenschießt. Der Erzähler sitzt im Zug und liest Erinnerungen von Anna Grigorjewna. Woher hat er das vergilbte sich auflösende Büchlein? Und unmittelbar beginnt sich alles mit allem in unheimlicher Spannkraft zu verweben. Im Sinne des Wortes: Unbeschreiblich!
Die Höllenstürze in der Spielbank, die entsetzlichen Erniedrigungen Annas durch diesen Getriebenen, die fürchterlichen Sterbeszenen, ein geradezu unheimliches Einfühlungsvermögen. Wer länger als dreißig Minuten lesen kann ohne aufzustehen und sich der Realität zu vergewissern, dem gilt meine Bewunderung! Allein der Streit mit Turgenjew, dem er in Baden-Baden begegnet, ist ein Roman für sich. Und die Leiden seiner Frau Anna erst recht. Und Baden-Baden, Dresden, Hamburg – und Zypkin hat nie etwas selbst gesehen... Ich breche ab und schließe mich Susan Sontags Worten an: „Aus der Lektüre des Romans „Ein Sommer in Baden-Baden“ geht man geläutert, erschüttert, gestärkt hervor, man atmet ein wenig tiefer und ist dankbar dafür, was die Literatur alles in sich bergen, was sie alles veranschaulichen kann. Leonid Zypkin hat kein dickes Buch geschrieben. Aber er hat eine große Reise gemacht.“
Helmut Ruppel
Der Bücherbrief erscheint in Zusammenarbeit mit KONTAKTE - KOHTAKTbI, Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Feurigstraße 68, 10827 Berlin
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